Die Antworten sind präzise Fragen
Von Dirk Pilz


Auf der Suche nach dem politischen Theater in Deutschland vielfältiger und hoch subventionierter Bühnenlandschaft. Risiken, Nebenwirkungen und das Beispiel Volksbühne in Berlin.


„Große Gefühle muss man sich leisten können.“ hat Heiner Müller einst notiert. Denn große Gefühle, so der vor sieben Jahren verstorbene Übervater deutscher Dramatik, kann es nur geben, wenn Wille und Möglichkeit den Rahmen eben dieser Gefühle freigeben. Nicht anders verhält es sich mit dem Theater: Man muss es sich leisten können. Für einen Staat, für eine Gesellschaft heißt das auch und vor allem: Man muss es sich leisten wollen. Wille braucht aber Begründung: Warum also wollen wir Theater?

Die deutsche Bühne stellt sich diese Frage in schöner Regelmäßigkeit, von Schiller bis Müller ist sie in allen Facetten diskutiert worden. Vorläufiges Ergebnis: Deutschland leistet sich viel Theater, auch wenn es vielen Kommunalpolitikern mitunter am Willen mangelt. Die deutsche Theaterlandschaft hat Tradition, die UNESCO schlug sie für ihre Liste des Weltkulturerbes vor: Nirgendwo existiert ein derartig breit gefächertes Subventionssystem. Und auch wenn über den Bestand derzeit heftig gestritten wird, weil die Kassen leer und die Phantasien vieler Verantwortlicher kümmerlich sind, so hat Berlin etwa fünf große Staatstheater, drei Opernhäuser und eine mit öffentlichen Geldern gestützte Off-Theaterszene, die ihresgleichen sucht. Berlin also, um in der Theaterstadt Deutschlands zu bleiben, ist mit einem Geflecht aus Bühnen gesegnet, das selbst für den professionellen Theatergänger nur schwer zu überblicken ist. Die Vielfalt der Spielorte kann sich dabei nicht nur vielfältige Spielpläne leisten, sie hebt zwangsläufig eben die Frage nach dem Theater selbst auf den Plan. Die Selbstthematisierung ist dabei nicht bloß eine Prägemarke der autoreflexiven Moderne, sie ist auch Produkt eines künstlerischen Freiraumes.

Und so hat nicht nur das Subventionstheater in Deutschland Tradition, die Infragestellung des Theaters ist nicht minder gern betriebene Disziplin. Weil die leichteren Gangarten der Bühnenkunst - wie Musicals, Revuen oder luftige Komödien - an eigenen Orten geboten werden, brauchen die großen Schauspielhäuser sich damit nicht aufzuhalten: Die Spartentrennung ist scharf, das Berliner Ensemble, die Volksbühne oder die Schaubühne etwa würden nie ein Musical inszenieren, weil andere Häuser den Bedarf professionell abdecken.

Auf sich selbst verwiesen, können sich die halbwegs autonomen Schauspielhäuser grundsätzliche Fragen leisten. Allerdings: Wie große Banken neigen die subventionierten Theater zu gesicherten Geschäften, die auch den Verwaltungsräten einleuchten. Klassiker für die Abonnenten, Bewährtes für das Stammpublikum.

Die Frage nach dem Sinn und Unsinn des Theaterspielens etwa, oder die nach dem politischen Gehalt der Bühne will auch in einer vom Staat gestützten Theaterlandschaft erkämpft sein. Gerade weil solche Fragen auf der Straße zu liegen scheinen, meiden die Theater sie gern: Das Naheliegende ist den Künsten von Haus aus suspekt. Naheliegend ist: kritische Auseinandersetzung mit Geschichte, Ausforschen der politischen Tiefendimension. Doch auch dem deutschen Theater ist in den letzten Jahren gemeinsam, dass die Frage nach Aufklärung eine nur marginale Rolle spielt. Aufklärung über Geschichte hieße: rekonstruieren, verstehen und erklären von Zusammenhängen. Nur der Zusammenhang ergibt ein Bild, das politisch ist. Zusammenhangslos gesehen ist die Geschichte eine Kriminalgeschichte, ein spannender Plot, der das Politische als störend empfinden muss, stören doch politische Zusammenhänge die gute Geschichte. Nach Brecht und nach der Postmoderne ist Geschichte jetzt kein Gegenstand der Auseinandersetzung mehr, sondern allenfalls Produzent von Storys, die den allgemeinen Zweifel am Sinn der Geschichte transportieren. Die Sinnhaltigkeit von Geschichte zu demontieren ist zum guten Ton geworden: Die neue Dramatik und mit ihnen das Gegenwartstheater beschreibt darum (nur noch) die Oberfläche geschichtlicher Prozesse. Geschichte ist ins Vage verabschiedet und dort gut aufgehoben: Unangreifbar, weil als Irrlicht geschildert.

Einmal als Irrlicht etabliert, taugt alles Politische zur unbegrenzten Projektionsfläche. Irrlichter erweisen sich als guter Stoff für die Künste, ihre Strahlung verliert sich im Ungefähren. Mystifizierung und Mutmaßung sind eine Einladung zur Verklärung: Was vage ist, kann dunkel bleiben. Die Annahme, im Zeitalter erodierender Werte sehne die Kunst sich wieder nach handfesten Geschichten, greift als Erklärung der Abwesenheit von kritischer Betrachtung des Politischen zu kurz. Vielmehr dokumentiert das Theater ein Ordnungsbedürfnis: Es soll Ordnung in eine Geschichte kommen, die in ihrer Unordnung den Selbstentwurf der Demokratie – und in ihr die Künste - stört. Ordnung sortiert aber die Geschichte zur glatten Oberfläche, schafft einleuchtende Bilder der zwielichtigen Geschichte. Wendete sich die Dramatik einer politischen Tiefendimension zu, stünde sie allerdings schnell vor unauflösbaren Widersprüchen. Die gute Geschichte liefe Gefahr zum bösen Erwachen zu führen – das Scheitern wäre vorprogrammiert, wobei Scheitern nicht unbedingt Misslingen heißen müsste. Spätestens seit Don Quichote gehört Scheitern zum Motor der Aufklärung. Dieses (aufklärerische) Scheitern kann grundsätzlich verstanden werden, wonach die Geschichte ein Konstrukt von Paradoxa ist und damit keine geordneten Schemata, sondern „Krisenmaterial“ (Benjamin) abwirft. Krisenmaterial aber ist der Stoff des Theaters, der kaum noch zur Bearbeitung gelangt. Natürlich, die Frage nach einer etwaigen Bestimmung der Bühne hat die Dramatik stets aufgeworfen. Shakespeare stellt sie genauso wie Ibsen. Nur die Einordnung in eine fest gefügte Kulturindustrie lässt sie aus dem Bewusstsein verschwinden. Das Ausloten von (geschichtlichen, gesellschaftlichen) Zusammenhängen – nichts anderes meint ein politisches Theater – bürdet dem Theater dabei keine fremdbestimmte Funktion zu: Es erwartet von ihm, ihrer ureigener Bestimmung zu folgen. Dass dies auch unterhalten, bezaubern, verführen darf und soll, muss eigens nicht erwähnt werden. Gelingendes Theater ist immer beides: unterhaltsam (weil es sich mit dem Publikum unterhält) und kritisch (weil es Fragen statt Antworten liefert).

Wer nach der Aufgabe des Theaters fragt, stellt also eine präzise Frage an die Wirklichkeit. Theater ist folglich politisch per se: Es entwirft Bilder der Wirklichkeit. Offen ist demnach nicht, ob Theater politisch ist; es kann gar nicht un-politisch sein. Die Frage ist vielmehr: Wie ist es politisch? Die Antwort ist kompliziert, nie abschließbar und immer nur vor dem Hintergrund der konkreten Situation zu finden.

Das Theater kann dabei natürlich nichts anderes sein als Theater. Es kann, zum Beispiel, kein Fernsehersatz oder schlechtes Kino sein. Die Gefahr für das Theater liegt heute nicht im politischen Anspruch, sondern anderswo. Es wird allzu leicht verführt, eine Rolle zu spielen, die ihm nicht zukommt. Zum Beispiel die Rolle der Unterhaltungsindustrie. Oder die des schlechten Gewissens. Letzteres ist sie in Deutschland besonders gern. Die deutsche Bühnenlandschaft ist immer mit einem doppelten schlechten Gewissen belastet: Es hat mit seiner blutigen, deutschen Geschichte zu kämpfen und Rechtfertigung für die Millionen öffentlicher Gelder zu erbringen. Eine Herkules-Aufgabe: Steuergelder sind künstlerisch nie zu rechtfertigen, weil Kunst nicht zweckorientiert ist. Und die deutsche Geschichte ist nicht hintergehbar, weil sie aus Deutschland gemacht hat, was es ist. Der deutschen Bühne geht es wie Deutschland: Dilemmata machen sie aus.

Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz macht die berühmteste Ausnahme von der Regel: Das Haus wagt (aufklärerisches) Scheitern, zeigt das Krisenmaterial der Geschichte und sucht das Politische jenseits der Oberfläche. Seit nunmehr zehn Jahren ist Frank Castorf Intendant am vielleicht wirkmächtigsten Theater in Deutschland. Castorf ist ein künstlerischer Autokrat, ein verbissener Wahrheitssucher, der an die Bühne glaubt, obwohl (oder gerade weil) er sie immer in Frage stellt. Er versucht immer das Unmögliche: totales, absolutes Theater, das sich in seiner Totalität selbst aufhebt. Die Volksbühne versteht sich nicht als eine Bühne, die einen Spielplan abspult: Das trutzige, graue Haus ist eine Denkburg, die sich mit aller Energie gegen die Zeit und ihre Selbstverständlichkeiten stemmt. Die Volksbühne will nicht einfach Theater spielen, sie will ausforschen, was ist: Volksbühne heißt praktische Kritik am Gegebenen.

Die soeben erschienen erste Biografie über Castorf trägt den programmatischen Titel „Provokation aus Prinzip“. Provokation meint: quer stehen zur Zeit. Das Prinzip ist: die Widersprüche der (gesellschaftlichen, politischen) Wirklichkeit zeigen. Nach dem Ende der Utopie wird am Hause Castorf die Utopie der Illusionslosigkeit vertreten. Theater gibt sich damit eine klare Aufgabe. Sie könnte mit Friedrich Dürrenmatt benannt werden: „Eingriffe in die Wirklichkeit“. Das meint nicht den naiven Glauben, die Kunst könne die Welt verändern; das meint: Erforschung des Wirklichen.

Seit zwei Jahren hat die Volksbühne ihre Wirklichkeit unter das Stichwort „Kapitalismus und Depression“ gebracht. Es gibt dazu eine Buchreihe, Vorlesungen, Konzerte und die Inszenierungen. Castorf untersuchte zuletzt vier Inszenierungen die Dialektik aus Kapitalismus und Depression anhand russischer Großromane: „Die Dämonen“, „Erniedrigte und Beleidigte“, „Der Idiot“ von Dostojewski und „Meister und Margarita“ von Bulgakow sind Dramatisierungen, die das Subjekt als deformiertes Objekt seiner Verhältnisse vorführen. Das Besondere daran: Castorf verbindet die analytische Schärfe mit Slapstick, den kritischen Impetus mit schauspielerischer Leichtigkeit, das Bühnenspiel mit Videoarbeit. In allen diesen Inszenierungen übernimmt die Kamera die Hauptrolle. Wir sehen die Schauspieler immer nur halb auf der Bühne, die andere Hälfte muss die zweidimensionale Leinwand leisten. Sie wandeln zwischen den Medien wie zwischen den Rollen: Jede Figur ist immer alles zugleich: Opfer und Täter, Film- und Bühnenfigur, Schauspieler und Person. Das will unter anderem die Doppelgesichtigkeit unsere Wirklichkeit verbildlichen: Was wir sehen ist Ergebnis dessen, was wir nicht sehen.

Das Theater liefert hier keine fertigen Erklärungsraster, es zeigt uns als Variablen eines Dilemmas: „Ohne Glauben leben“ war das Motto zu Castorfs Inszenierung von Tennessee Williams Stück „Endstation Sehnsucht“, „I want to believe“ ist es zu „Meister und Margarita“. Die Einsicht ins Paradox fungiert als Einsicht in die Wirklichkeit. Gegeben ist damit keine konkrete Kritik an konkreten politischen Verhältnissen, sondern die grundsätzliche Infragestellung der Zustandsbereiche von Politik überhaupt. Für viele der fast immer ausverkauften Vorstellungen ist das eine der vielleicht letzten Möglichkeiten des politischen Theaters: Die Suche nach dem, wonach überhaupt gesucht werden soll. Eine Suche, die man sich leisten können muss und will. Dass Castorf zwar viele Nachahmer, aber im deutschen Theaterbetrieb keinen wirklichen Mitspieler auf gleicher Augenhöhe hat, zeigt einmal mehr, dass im subventionierten wie im privaten Theater die großen Fragen erkämpft sein wollen. Sie liegen auf der Straße, das Aufgreifen braucht Mut und Verve. Für die Zuschauer bei Castorf zumindest scheint die Frage, warum es Theater will, beantwortet: Sie wollen dieses Theater, weil und wenn sich nicht vor der Wirklichkeit wegduckt, sondern diese aufgreift, durchleuchtet, befragt. Das politische Theater mag es in Deutschland dank der staatlichen Hilfe leichter haben, aber wie jede Hilfe muss man wissen, wie sie zu nutzen ist.




Dirk Pilz, Theater- und Filmkritiker in Berlin.
dirk_pilz@web.de